Text: Niklas Pfeifer
19. Mai 1885 Hildesheim – 21. Mai 1943 Sobibor
Gertrud Hadra geb. Freudenthal war eine besonders begabte Schülerin. Anders ist nicht zu erklären, dass sie die Höhere Töchterschule mit dem Jahrgang 1900/1901 in der Selekta abschloss, einer Abschlussklasse, die außergewöhnlichen schulischen Talenten vorbehalten war. Die Töchter der Familie Freudenthal waren an der Töchterschule vielgesehen: Else Freudenthal lernte dort bis 1884, Franziska Freudenthal bis 1897 und Elisabeth Freudenthal machte im Jahrgang 1904/05 ihren Abschluss. Sie alle waren vermutlich Schwestern oder Cousinen Gertruds.
Emil Freudenthal war es, der seiner Tochter Gertrud die teure Bildung ermöglichte. Schon seit 1870 besaß die Familie eine Baumwollweberei für Erzeugnisse aus Halblinnen und 1874 kam das Textilhaus „Löbenstein & Freudenthal“ hinzu, das Emil Freudenthal gemeinsam mit dem angesehenen Kaufmann Löbenstein gründete. Er und ein Angehöriger der Familie Freudenthal engagierten sich in der örtlichen Synagogen-Gemeinde, so hatten sie zum Beispiel an der Initiative zur Errichtung der Synagoge am Lappenberg einen entscheidenden Anteil. Zur Zeit von Gertruds Geburt 1885 lebte die Familie Freudenthal in der Osterstraße, zog jedoch bereits im folgenden Jahr in die Binderstraße um, wo sie zumindest bis zum Tod Emil Freudenthals im Jahr 1915 lebte.
Gertrud war mit Ignaz (Fritz) Hadra verheiratet, dem Inhaber der Germania Apotheke in der Lothringer Straße 50, in Berlin Mitte. Die Straße östlich des Rosenthaler Platzes war Teil eines Armenviertels, in dem sich viele osteuropäische Juden niederließen. Die Apotheke existiert noch heute an derselben Stelle im Weinbergsweg 1, Ecke Torstraße. Zur Zeit der Machtergreifung Hitlers lebte das Ehepaar Hadra in Charlottenburg. Ihr Haus in der Niebuhrstraße lag in einer eleganten Wohngegend nahe dem Kurfürstendamm und ist bis heute erhalten geblieben.
Am 8. August 1939 verließen Getrud und Ignatz Hadra ihr Heim in der Hauptstadt und flohen aus Angst vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in die Niederlande, wo sie am 21. August desselben Jahres als Einwohner Amsterdams ein neues Leben begannen. Doch der Krieg holte sie ein: Das Ehepaar wurde am 16. März 1943 in Westerbork registriert, interniert und zwei Monate später, am 18. Mai 1943 nach Sobibor deportiert. Gertrud Hadra starb am 21. Mai 1943 im Alter von 58 Jahren in den Gaskammern des Vernichtungslagers.
Eine Tochter Getrud Hadras konnte nach New York entkommen. Ilse Winkler starb im September 1999. Gertruds Enkeltochter Bea Winkler Bayer gedachte 2001 von dort aus ihrer ermordeten Großmutter mit einem Gedenkblatt in der zentralen Datenbank für Opfer des Holocausts der Gedenkstätte Yad Vashem. Getrud Hadra geb. Freudenthal – begabte Schülerin, geliebte Tochter, Ehefrau und Mutter – bleibt ihrer Familie also unvergessen.
Quelle:
Niklas Pfeifer in: Christina Prauss, Verfolgt, ermordet – unvergessen, Gerstenberg-Verlag Hildesheim 2012
Belege:
- Wilhelm Tesdorpf, Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens der Städtischen Höheren Töchterschule, Hildesheim 1908, S. 54. 64. 67
- Jahresbericht 1900/1901
- Helmut von Jan, Die Katastrophe der Hildesheimer Juden, 1938 – 1988 in: Alt Hildesheim 59, Hildesheim 1988, S. 103
- Einwohnermeldekartei
- Hildesheimer Adressbücher
- Geschäftsjubiläum in HiAZ v. 18.8.1924
- Herbert Reyer (1). HiAZ v. 6.11.1999
- Berliner Adressbücher 1926 und 1933
- Yad Vashem
- Auskunft J. Martin, Kamp Westerbork
- New York Times v. 24.9.1999