Text: Hartmut Häger
Im Februar 1945 wurden die zahlreichen Konzentrationslager in der Gegend um Waldenburg und Schweidnitz vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert, darunter auch am 16. Februar Wüstegiersdorf. Fünf- bis sechstausend halbverhungerte Häftlinge wurden in einem Todesmarsch bis nach Parschnitz getrieben, annähernd 80 Kilometer durch die Ausläufer des Eulen- und Riesengebirges. Der größte Teil der entkräfteten und völlig unzulänglich gekleideten Menschen wurde am 18. Februar in das KZ Flossenbürg gebracht. Etwa 800 Häftlinge wurden in offenen Güterwaggons ohne Essen (es gab nur einen Laib Brot pro Person auf dem ganzen Transport), ohne Trinken und ohne Schutz vor Schnee und Regen nach Bergen-Belsen geschickt, wo nur noch etwa 500 nach insgesamt sechzehn oder siebzehn Tagen mehr tot als lebend ankamen. Schon zwölf Stunden später ging es für viele von ihnen weiter nach Hildesheim. Dort hatte die SS für sie die Außenstelle Hildesheim des KZ Neuengamme eingerichtet.
Die Chronologie der Ereignisse:
1. März 1945
Die Stadt weist dem Reichsbahnbetriebsamt den großen und kleinen Saal im ersten Stock der Stadthalle, Neue Straße 21, (heute befindet sich dort das St.-Paulus-Altenheim) mit sofortiger Wirkung für die Unterbringung von 500 Konzentrationslagerhäftlingen zu. Das Betriebsamt hatte bei der SS ein Arbeitskommando angefordert, um den Güterbahnhof und die Hauptstrecke nach Dresden über Leipzig instandzusetzen, die durch den Bombenangriff am 22. Februar 1945 zerstört worden waren.
Sigurd Prinz, der Sohn des letzten Pächters Wilhelm Prinz, erinnert sich an einen Lastwagen, der am 1. März vor der Stadthalle hielt und Stroh anlieferte. In den nächsten Tagen seien in den Klubräumen des Erdgeschosses Feldbetten, Tische, Spinde und Öfen für die Wachmannschaft aufgestellt worden.
2. März 1945
Die 500 Häftlinge („Arbeitssklaven“) aus Bergen-Belsen kommen mit einem Güterzug in Hildesheim an. In Feldbetten können sich die Häftlinge nicht legen. Jeder Häftling bekommt eine 30 Zentimeter dicke Schicht Stroh zum Schlafen. Nach den Torturen des Transports aus Polen über Bergen-Belsen nach Hildesheim finden die Gefangenen immerhin einen Ort mit Toiletten und Waschgelegenheiten vor. Ein für die Häftlinge langersehnter Luxus.
3. März 1945
Erneut fallen Bomben auf Hildesheim, auch auf das Bahngelände nördlich der Schützenallee. Dorthin, zum Güterbahnhof, schlurfen die 500 Gefangenen auf Holzschuhen über das Kopfsteinpflaster durch Hildesheim. Der zwölfstündige Arbeitseinsatz besteht aus Schwellentragen und Schienenlegen. Nach einem Bombenangriff verlängert sich der Arbeitstag, wenn brennende Waggons zu entladen sind.
Zur härtesten körperlichen Arbeit kommt die seelische Erniedrigung. Ein Zug des Volkssturms beaufsichtigt die Juden auf dem Weg zur Arbeit und während der Arbeit. NSDAP-Kreisleiter Karl Meyer forderte die etwa 40 bis 50 Männer in einer Rede auf, die Häftlinge mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen. Angesichts der vorrückenden Front sei rücksichtsloses Vorgehen erforderlich, um Aufstände oder Plünderungen zu verhindern: „Machen Sie von Ihrer Schusswaffe Gebrauch!“
5. oder 6. März 1945
Ein Junge, etwa 18 Jahre alt, hatte aus einem ausgebombten Güterwagen eine verdorbene Dose Erbsen mitgenommen. Ein Bewacher zeigte ihn beim Truppführer Albert Rosin an. Der machte kurzen Prozess: „Wer plündert, wird erschossen!“ Auf einen Bombentrichterrand auf dem Bahnhofsgelände erschoss er den Jungen. Im Urteil des Landgerichts, das den Täter 1951 wegen Totschlags mit fünf Jahren Gefängnis bestrafte, wird der junge ungarische Jude Tibor genannt. Andere Häftlinge mussten seine Leiche in einen Bombentrichter werfen und mit Erde zuschütten.
14. März 1945
Das Senkingwerk und der Rangierbahnhof werden bei einem Angriff zerstört. Ein Augenzeuge notiert in seinem Tagebuch: „Als wir die Römerringbrücke an Feierabend passierten, war dort ein Trupp Juden zum Entladen zerstörter Kartoffelwaggons eingesetzt. Sie schleppten die Kartoffeln in Säcken zur Brücke, wo sie in Lastautos verladen wurden. Mir taten die Menschen leid, aber ich bemerkte nicht, dass sie getrieben wurden.“ Der Überlebende Fritz Gross erinnert sich an hasserfüllte Demütigungen. Er hört heute noch, wie Teile der Hildesheimer Bevölkerung die Gefangenen nach den Bombenangriffen beschimpften und verhöhnten, als diese durch Hildesheim getrieben werden.
19. oder 20. März
Herman Hermans, ein holländischer Zwangsarbeiter, notiert in seinem Tagebuch: „Durch die enge Gasse, die zum Domplatz führt, schlurft schweigend eine lange Reihe Männer. Es sind ein paar hundert. Ungepflegt, mager und müde sind sie. Bei vielen liegen die Augen tief in den Höhlen. Sie tragen gestreifte Sträflingskleidung. Schwerbewaffnete Begleiter in Uniform halten sie in Schach. Wer die Unglücklichen sind, weiß ich nicht.“
22. März 1945
Der größte Bombenangriff auf Hildesheim zerstört mit der Innenstadt auch die Stadthalle. Dort sterben die zurückgebliebenen Kranken. Viele kommen um, weil sie durch die brennende Stadt zurück zur Stadthalle laufen. Herman Hermans berichtet in seinem Tagebuch über ein Gerücht, dass während des Bombardements aus der Stadthalle ein jämmerliches Geschrei aufstieg. Es sei der Todesschrei der ungefähr 300 Männer gewesen, die er vor zwei oder drei Tagen gesehen hatte. Die Überlebenden werden nach Ende des Angriffs wieder zusammengetrieben und zum Ufer der Innerste in der Nähe des Dammtors gebracht. Dort müssen sie unter freiem Himmel übernachten. Weitere Menschen sterben, diesmal an Erschöpfung und Unterkühlung. Einige werden auf dem Hildesheimer „Jüdischen Friedhof“ begraben.
25. März 1945
Aufbruch zu einem dreitägigen Todesmarsch nach Ahlem. Wer nicht mehr gehen kann, wird erschossen. In Ahlem müssen die Häftlinge die Asphaltstollen für die unterirdische Produktion von Flugzeugreifen durch die Continental AG ausbauen. Dafür haben sie oberirdisch Tag und Nacht Zement anzurühren und in die Stollen zu tragen.
6. April 1945
Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Am 8. April kommen von den ehemals 500 Gefangenen 250 bis 300 dort an. In der letzten Woche vor der Befreiung des Lagers durch die Engländer am 15. April erlitten sie zusammen mit über 60.000 Gefangenen katastrophale Zustände. Für 20.000 bis 25.000 Menschen standen so viele Waschräume und Toiletten zur Verfügung wie ein Jahr zuvor für 2.000 – wenn sie denn alle funktionierten. Bauchtyphus-, Ruhr- und Fleckfieber-Epidemien verbreiteten sich schnell und forderten zahlreiche Opfer. Erst drei Tage nach der Befreiung, am 18. April, können die ersten 500 Fleckfieberkranken in einem improvisierten Lazarett in der SS-Apotheke des Lagers behandelt werden.