Text: Klaus Schäfer – aktualisiert und ergänzt von Hartmut Häger
Die Heil- und Pflegeanstalt in Hildesheim war auf vier Standorte (Michaeliskloster, Magdalenenkloster, dem Sültekomplex sowie das landwirtschaftlichen Gut in Einum) verteilt. Ab 1930 war Dr. Hermann Grimme Direktor der Heil- und Pflegeanstalt. Die Einrichtung war 1933 mit 530 Männern und 502 Frauen überbelegt. Von 1933 an wurde das Gesundheitswesen den rassenpolitischen Zielen des Regimes unterworfen. Die Pflegesätze wurden gekürzt. Psychisch Kranke galten nun als Ballast. 1940 begannen die Euthanasiemorde des NS-Regimes. Insgesamt wurden ca. 200 000 Patienten Opfer dieser Vernichtungspolitik.. Am 21. September 1940 wurden mindestens elf jüdische Patienten der Heilanstalt deportiert. Die als Zielort genannte Anstalt in Polen war nur eine Tarnadresse.
Im März 1941 folgten die Transporte im Rahmen der sogenannten T-4-Aktion. Die Euthanasiemorde an psychisch Kranken erfolgte Grundlage eines geheimer Erlasses von Adolf Hitler vom Oktober 1939. Die Verabschiedung eines Gesetzes wurde aus Angst vor öffentlichen Protesten von Hitler abgelehnt. Dr. Grimme wusste seit Frühsommer 1940 von den Planungen zur Ermordung der Insassen. Zunächst waren dies nur Gerüchte. Kurz darauf erhielt er eine schriftliche Mitteilung aus Langenhagen und die Meldebogen des Reichsinnenministeriums. Wenige Wochen später kam eine Liste mit 200 Namen, aus der Dr. Grimme 120 Patienten heraussuchen sollte. Am 27. Februar 1941 verfasste er eine Denkschrift, in der er nochmals seine Zweifel an der Aktion darlegte. Grimme selbst entzog sich der Entscheidung und nahm vierzehn Tage Urlaub. Die Liste aus Berlin übergab er an seinen Oberarzt Dr. August Jacobi. Inwieweit versucht wurde die Zahl der Opfer zu begrenzen, indem man sie zum Beispiel als arbeitsfähig einstufte, bleibt unklar. Ein Teil der Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim wurde gerettet, weil ihre Angehörigen durch Dr. Grimme Kenntnis von den Plänen erhielten.
Am 7. März 1941 wurden 120 Insassen der Anstalt in Hildesheim zunächst nach Waldheim und von dort wahrscheinlich nach Sonnenstein/Pirma verlegt. Dort befand sich eine der Tötungsanstalten, in der sie in der Gaskammer ermordet wurden. Weitere Transporte aus der Pflegeanstalt Hildesheim, von denen insgesamt 310 Patienten betroffen waren, fanden im April 1941 statt. Sie wurden über mehrere Etappen im September 1941 in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. So fanden im Rahmen der ersten Euthanasie-Morde bis 1941 etwa 440 Patienten aus Hildesheim den Tod. 1941 wurde in dem Teil der Pflegeanstalt auf dem Sültegelände ein Lazarett der Wehrmachtsverwaltung eingerichtet.
Doch auch über 1941 hinaus wurden die Euthanasie-Maßnahmen fortgesetzt. Die Lebenssituation in den Anstalten verschlimmerte sich drastisch. Dies zeigte sich in den ständig steigenden Todesfällen, die auch für Hildesheim belegt sind. 1936 betrug die Sterbequote der Insassen in der LHP Hildesheim noch 6,4 %. Zwischen 1941 und 1944 stieg sie auf 11,8%. Im Jahr 1944 betrug sie dann 19,2%. Ursachen waren Mittelkürzungen, Überbelegungen, Personalknappheit und Vernachlässigung der Insassen. Ende 1943 wurden zwölf Insassen von der Hildesheimer Polizei abgeholt und wahrscheinlich in das KZ Ravensbrück überstellt.
Die Heil- und Pflegeanstalt musste bis September 1943 das Michaeliskloster sukzessive räumen und an die SS-Führungsschule „Haus Germania“ abgeben. Aufgrund der nun stark beengten Verhältnisse wurde eine große Anzahl Patienten in andere Einrichtungen verlegt – unter anderem nach Alt-Scherbitz. Auch Personal wurde dorthin abgeordnet.
Dr. Grimme hatte gegen die Räumung des Michaeliskloster Protest eingelegt. Er wurde von der Gestapo festgenommen und fünf Tage lang inhaftiert. Als Leiter der LHP wurde er sofort beurlaubt und dann vorzeitig pensioniert. Ab Januar 1944 übernahm der erste Oberarzt Dr. med. August Jacobi das Amt des Direktors.
Im September 1944 fand ein weiterer Transport von Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt Pfaffenrode statt. Die genaue Zahl ist unbekannt. Gegen Ende des Krieges wurden weitere Insassen nach Wunstorf verlegt. Wie viele Patienten der Hildesheimer Anstalten im Rahmen „rassenhygienischer Maßnahmen“ der Nationalsozialisten ermordet wurden, ist nicht eindeutig zu klären. Wahrscheinlich liegt die Zahl bei ca. 900.
Literatur
Reiter, Reimond / Günther Ritzel:
Die Eröffnung der neuen Heil- und Pflegeanstalt
in Hildesheim im Jahr 1827 in:
175 Jahre Landeskrankenhaus Hildesheim, Hildesheim 2002, S. ???
Suesse, Thorsten / Heinrich Meyer:
Die Konfrontation niedersächsischer Heil- und Pflegeanstalten mit den Euthanasiemaßnahmen des Nationalsozialismus
Dissertation, Hannover 1984