Gustav Fränkel – ein jüdischer Unternehmer, Bürgervorsteher und Wohltäter in Hildesheim

Text: Hartmut Häger

Wenn Hildesheimer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von „Sack-Fränkel“ sprachen, dann taten sie das nicht despektierlich, sondern respektvoll. Gemeint war der jüdische Unternehmer Gustav Fränkel, der die von seinem Vater Joseph (Josef) Fränkel übernommene Firma G. D. Fränkel seit 1903 als Miteigentümer und ab 1904 als Eigentümer betrieb. Seine Fabrik erzeugte Säcke und Filtertücher, die vor allem an die Zucker- und Kaliindustrie verkauft wurden. Fränkel verlegte sie 1914 von der Kaiserstraße zum Langen Garten, wo sie unter seiner Leitung bis zur „Arisierung“ im Februar 1938 bestand. Im August 1938 wanderte Gustav Fränkel nach Buenos Aires aus. Dort starb er fünfeinviertel Jahre später als Gustavo Fraenkel, nicht, wie ersehnt, in der deutschen Heimat, sondern im Exil.
Gustav Fränkel wurde am 25. Oktober 1871 in Bolzum geboren. Seine Eltern waren der Kaufmann Joseph (oder Josef) Fränkel (geb. 3. Januar 1839 in Bolzum, gestorben am 5. September 1916 in Hildesheim) und Caroline (genannt Lina) Fränkel, geb. Güdemann (geb. 21. Mai 1836 in Bolzum, gestorben am 3. August 1919 in Hildesheim; Eheschließung: 28. Mai 1865). Seine Geschwister waren Ida Fränkel (geb. 14. Oktober 1865), verheiratete Stern, Bertha Fränkel (geb. 7. Februar 1867), verheiratete Güdemann, und Jenny Fränkel (geb. 14. Oktober 1870).
Zu Michaelis 1881 wurde Gustav Fränkel in die Klasse VI b (Sexta) des Andreanums aufgenommen. 1885 wechselte er aus der Klasse IV (Quarta, entspricht dem heutigen 7. Schuljahr) zum Realgymnasium, offenbar zeitgleich mit der Einweihung des neuen Gebäudes und der Gründung des Königlichen Andreas-Realgymnasiums, des Vorläufers des heutigen Scharnhorstgymnasiums. In den Schulprogrammen des Andreas-Realgymnasiums ist sein Name unter den Schülern, die nach bestandener Reifeprüfung die Schule verließen, nicht zu finden. Vermutlich ging er aus der Untersekunda mit dem Zeugnis der „Mittleren Reife“ ab, um im väterlichen Betrieb den Beruf des Kaufmanns zu erlernen. Bis zum 30. Januar 1904 wohnte er bei den Eltern in der Kaiserstraße 6, allerdings immer unterbrochen von Militärdienstzeiten in Dortmund, Braunschweig und Malchin. Am 1. Oktober 1893 wurde er Unteroffizier der Reserve. Am 15. August 1900 heiratete er Elisabeth Schäfer, geb. 15. August 1876 in Berlin. Das Adressbuch der Stadt Hildesheim erwähnt ihn erstmals 1895 mit der Berufsbezeichnung Kaufmann und dann wieder ab 1898 als Prokurist beziehungsweise 1903 als Mitinhaber.
Vier Kinder gingen aus der Ehe hervor, alle wurden in Hildesheim geboren: Heinz Julian, geb. 18. August 1901, Hilde, geb. 6. September 1902 (sie heiratete am 15. September 1929 den Dipl. Ing. Heinrich Kleber), Ernst-Gerhard, geb. 30. Juni 1905 und Hans Peter, geb. 5. Juni 1907. Die Familie wohnte vom 30. Januar 1904 bis zum 11. Juni 1926 im eigenen Wohn- und Geschäftshaus Kaiserstraße 39.
Fränkels kulturelles, soziales und politisches Wirken in Hildesheim erstreckt sich auf die Jahre 1910 bis 1924. In dieser Zeit beteiligte er sich an der Gründung der Stadttheater Hildesheim AG, schenkte der Stadt den Julius-Wolff-Brunnen, initiierte und finanzierte den Kinderhort Marienburger Höhe, errichtete Stiftungen für soziale und schulische Zwecke und gestaltete als erster Jude, der als Bürgervorsteher in die Städtischen Kollegien gewählt wurde, kommunalpolitisch die Daseinsbedingungen in seiner Heimatstadt mit.
Über das Verhältnis Fränkels zu seinen Arbeitern und Angestellten geben die Akten keine Auskunft. Das ist allerdings schon eine positive Aussage, weil die Gewerbeaufsicht Beschwerden, Klagen oder Mängelrügen dokumentiert hätte. Die von der Firma gezahlten Löhne sind nicht überliefert, die Arbeitsordnungen dagegen schon. Daraus geht hervor, dass Fränkel die 1914 noch weitverbreitete 60-Stunden-Woche für Frauen um zwei Stunden gekürzt hatte. 1922 betrug die tägliche Arbeitszeit für alle acht Stunden (ausschließlich der Pausen). Ab 1934 waren die 6 ½ Stunden Pause in den 48 Stunden enthalten.
Die seltenen Überschreitungen der Arbeitszeit ließ sich Fränkel genehmigen. 1924 und 1930 forderten die Zuckerfabriken „infolge dringlichen Bedarfs“ beziehungsweise „wegen der wider Erwarten großen Ernte“ Filtertücher bzw. 35.000 Säcke an, die nur unter Zuhilfenahme des Buß- und Bettags termingerecht zu liefern waren. 1924 waren „etwa 8 Frauen und 2 Männern“ betroffen, 1930 gestattete das Gewerbeaufsichtsamt die mit Zustimmung des Betriebsrates beantragte „ausnahmsweise Beschäftigung von ca. 110 Arbeitern“.
Aus der Behebung einer Notlage zur Verhinderung von Produktionsausfällen machte die Hildesheimer NSDAP einen Ausbeutungsskandal. Auf einem dunkelroten Handzettel gab sie außer dem Namen der Druckerei Bakeberg & Löhner keinen Namen eines presserechtlich Verantwortlichen an, schlüpfte aber gleichwohl in die Rolle eines persönlichen Anklägers, der inquisitorisch acht Fragen stellte, deren Antworten er offenbar bereits kannte. Die Ankündigung „Wir geben Aufklärung über den Fall des hiesigen Juden Fränkel“ stellte er dem Fragenkatalog voran.
Mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 begann die staatlich systematisch betriebene Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, ihre Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben und ihre Isolation in allen gesellschaftlichen Bereichen, ihre Ausbürgerung, Verschleppung und Vernichtung. Gustav Fränkel wartete das Unheil nicht ab, sondern organisierte die „Arisierung“ so, dass er bis zu seiner Auswanderung Einfluss auf das Unternehmen behielt. Am 8. November 1935 teilte die Textilwerke Hildesheim G. m. b. H. dem Gewerbeaufsichtsamt Hildesheim „gleichzeitig im Namen und im Auftrage der Firma G. D. Fränkel G. m. b. H.“ mit, dass sie den Betrieb übernommen habe und in unveränderter Weise fortführen werde. Dem vorangegangen war die Auflösung der G. D. Fränkel G. m. b. H. als „Sackfabrik und Herstellung von Filterstoffen“ am 19. Oktober 1935. Im Vorstand der neuen Gesellschaft waren Gustav Fränkels Söhne Hans Peter (zugleich Geschäftsführer) und Ernst Gerhard. Im Mai 1937 teilten die Textilwerke eine neue Zusammensetzung des Vorstands mit: Willy Schacht sowie Fränkels Schwiegersohn Dipl.-Ing. Heinrich Kleber und Fränkel Sohn Ernst führten die Geschäfte, Prokuristen waren Rudolf Erb, Florenz Bolwien und Maria Linneborn. Als seine Chefsekretärin genoss Linneborn Fränkels vollstes Vertrauen.
Gustav Fränkel zeigte am 15. Februar 1938 an, dass er die auf ihn durch Umwandlung übergegangene Firma Textilwerke Hildesheim an die Textilwerke Hildesheim Schacht & Co K. G. verkauft habe. Als letzter Firmenangehöriger aus der Familie Fränkel wanderte 1939 auch der „arische“ Schwiegersohn Heinz Kleber nach Argentinien aus, wo der Rest der Familie bereits Fuß gefasst hatte. Gustav Fränkel verlor bei der Ausreise durch die zu zahlende Reichsfluchtsteuer 876.000 RM, die Judenvermögensabgabe 300.000 RM sowie durch Transferverluste bei der Umwandlung von Reichsmark in „Auswanderermarks“ durch die Deutsche Golddiskontbank AG 1,49 Millionen RM. Insgesamt büßte die Familie 4.400.560,22 RM ein, von denen sie nach langem Rechtsstreit 1956 durch Vergleich eine knappe Million DM zurückerhielt.
Während sich die Familie Fränkel der nationalsozialistischen Verfolgung durch Auswanderung entziehen konnte, wurde Gustav Fränkels Schwester Berta, die mit Moritz Güdemann verheiratet war, am 23. Juli 1942 zusammen mit ihrer Tochter Hanna (geb. 8. Juli 1891) nach Theresienstadt deportiert. Sie starb am 30. Juni 1943 im Lager Terezin. Hanna wurde am 15. Mai 1944 weiter nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, wo sie ermordet wurde. Beide wohnten zuletzt im „Judenhaus“ Friesenstr. 16.

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Gustav Fränkel
Einige Gebäude der Fränkelschen Sackfabrik am Langen Garten – heute