Text: Hartmut Häger
Die kleine Schule der jüdischen Gemeinde Hildesheims überstand die Zerstörung der benachbarten Synagoge, die von den Juden auch „Schul“ genannt wurde. Diese jiddische Bezeichnung für das Haus des Betens, Lernens und des sich Versammelns trifft sehr genau die Funktionen, die das rote Backsteingebäude am Lappenberg nach dem 9. November 1938 übernehmen musste. Gleichermaßen trifft diese erzwungene Funktionsverschiebung auch auf den Lehrer Hermann Spier zu. Kurz bevor die Synagoge ein Raub des von der SA gelegten Brandes wurde, hatte die Gemeinde ihren Rabbiner Joseph Schwarz verloren. Er hatte – sicher auch wegen des zunehmenden Diskriminierungsdrucks – am 1. September 1938 sein Amt niedergelegt, um eine Rabbinerstelle in Manila, auf den Philippinen, anztreten. Rabbiner bedeutet „Meister, Lehrer“. Als „Schulmeister“ hätte sich Hermann Spier wohl auch gesehen und als Lehrer, gerade auch in Glaubensfragen, sowieso. Er übte schon immer außerhalb von Schule und Unterricht Dienste in den Synagogengemeinden aus, in denen er beschäftigt war. Als er im April 1938 nach Hildesheim kam, brachte er seine vielfältigen Fähigkeiten sofort in die verstörte und bedrängte jüdische Gemeinde ein.
Die Schule nahm im ersten Drittel des Jahres 1940 Kinder aus Ostfriesland auf, die auf Betreiben der örtlichen Machthaber als Juden zusammen mit ihren Eltern aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der zuständigen „Reichsvereinigung“ gelang es noch, die eigentlich beabsichtigte Deportation nach Polen abzuwenden und in den jüdischen Gemeinden in Hildesheim und Köln für die Kinder eine beschützende Unterkunft und Betreuung zu finden. Zwischen Februar und Mai 1940 entstand das Kinder- und Schülerheim am Lappenberg 21. Hermann Spier war Lehrer und Erzieher im Kinderheim.
Am 1. April 1942 wurden von Ahlem, Bahnhof Fischerhof, laut Transportliste II 470 Personen nach Warschau deportiert, davon 60 aus Hildesheim. Auf der Deportationsliste stehen neben dem Lehrer Hermann Spier und seiner Frau Henriette der Hausmeister des Heimes Leo Kozminski und seine Frau Julia mit den beiden Kindern Marion und Manfred sowie das Heimleiter-Ehepaar Margarethe und Robert Bloch. Die Kinder Gerda und Henriette von der Wall wurden zusammen mit ihrer Mutter Eva und ihrem zwanzigjährigen Bruder Manfred deportiert. Die anderen Kinder führte man mit ihren Eltern oder anderen Familienangehörigen zusammen, um sie von den jeweiligen Wohnorten aus in die Konzentrationslager zu transportieren. Fast alle kamen in der Schoah um.
Download